Flucht und Vertreibung

Bahnhof Reichenbach / Dzierzoniow 2011

 

Bericht eines heimatvertriebenen Reichenbachers:

 

Im Januar 1945 wurden die Einwohner mehrerer Straßen in Reichenbach aufgefordert, so auch die der Ernsdorfer Straße, sich am 23. des Monats, mit kleiner Habe am Bahnhof einzufinden, um mit einem Zug aus der Heimat nach Westen evakuiert zu werden. Meine Mutter war sofort bereit dazu, da sie sich an die dringende Bitte in einem Brief meines Vaters erinnerte, wenn möglich aus dem Bereich der Russen zu kommen. Unsere Familie bestand damals aus meiner Mutter, meiner kleinen am 14.6.1943 geborenen Schwester Marianne, und mir. Vater und Bruder waren ja im Krieg. Als die große, den ganzen Bahnhofsvorbereich einnehmende Menschenmenge, vor dem Bahnhof versammelt war und die Leute auf die Personenwagen verteilt werden sollten, kamen russische Flugzeuge und beschossen uns. Meine Mutter hatte unsere Habseligkeiten und meine kleine Schwester in deren ehemaligen Kinderwagen gepackt. Der Wagen war in dem Wirrwarr zwischen anderen Kinderwagen und Handwagen eingeklemmt, und wir bekamen ihn nicht frei. Da meine Mutter meine kleine Schwester und die wenigen Habseligkeiten auf keinen Fall allein lassen wollte, wie andere Leute in der gleichen Situation es kopflos sogar mit ihren Kindern getan hatten, und wir also nicht wegkonnten, bog sie meinen und ihren Kopf in den Kinderwagen, und vertrauten auf unser Glück, dass wir nicht getroffen würden. Bevor mein Kopf im Wagen verschwand, konnte ich noch die schwarzen Punkte (Geschosse) von den Maschinengewehren der Flugzeuge kommen sehen, und wie sie auf dem Erdboden zerspritzten, so sah es jedenfalls aus. Dann war es auf einmal ruhig. Wir hoben unsere Köpfe aus dem Wagen und sahen, dass wir ganz allein waren auf dem Bahnhofsvorplatz. Aus anderen Kinderwagen war lautes Geschrei zu hören. Brote, Würste und andere Sachen lagen auf dem Bahnhofsvorplatz verstreut herum. Es herrschte ein großes Durcheinander. Meine Mutter, Marianne und ich waren, Gott sei Dank, nicht getroffen worden. Wir waren die einzigen sich bewegenden Menschen auf dem Gelände. Wie viel Menschen zu Schaden gekommen waren kann ich nicht sagen. Ein Abreisen mit dem Zug war nicht mehr möglich, die Flugzeuge hatten Zug und Gleise zerstört. Wir wollten nicht mehr zurück in die Wohnung. Da geschah folgendes. Meine Mutter hatte bis zu meiner Geburt in einer Textilfirma gearbeitet und kannte daher noch viele Mitarbeiter aus der Firma. Als die Bombardierung des Bahnhofs vorbei war, und sich wieder Leben auf dem Bahnhofsvorplatz regte, kam auch ein kleiner Lastwagen angefahren. Ich habe ihn als Opel-Blitz ähnlich in Erinnerung. In dem Fahrer, ich weiß den Namen nicht mehr, erkannte meine Mutter einen Bekannten aus ihrer ehemaligen Firma und bat ihn uns aus der Stadt zu bringen, da sie vermutete, dass weitere Flugzeuge kommen würden. Nach langem Zögern erklärte der Mann sich bereit, uns, meine Mutter, meine kleine Schwester und mich, dann weiter meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, sie hatte in dem gleichen Betrieb gearbeitet, und deren hochschwangere Tochter, also meine Tante Else, mit deren 4-jähriger Tochter über das Eulengebirge zu bringen, da meine Mutter dort für die erste Zeit Ruhe vermutete. Wir kletterten auf die Ladefläche, die mit einem Gestell und einer Plane darüber abgedeckt war, und waren mit noch einer Familie, die ich nicht kannte und deren Namen ich nicht mehr weiß, ungefähr 10 Personen. Die schwierige Fahrt ging durch tiefverschneite Landschaft. Die Temperatur war tiefer als minus 20° C. Die Fahrt brachte uns durch Langenbielau und über den steilen, tief verschneiten und glatten Volpersdorfer Pass, der zum Teil mit Militär und Flüchtlingswagen und Trecks verstopft war. Wir guckten ein paar Mal unter der Plane hervor und sahen in den Straßengräben und auf den Hangflächen an einigen Stellen verstorbene und erfrorene Tiere und sogar Menschen liegen. In dem Durcheinander konnte sich niemand um die Leichen kümmern. Die Straße war zum Teil mit abgerutschten und liegengebliebenen Fahrzeugen verstopft. Wir kamen nur sehr langsam vorwärts und hatten natürlich an den vereisten Steigungs- und Gefällestrecken große Schwierigkeiten voran zu kommen. Wir schafften aber die unheimlich schwierige Fahrt ohne Verluste und Schäden, froren aber ganz erbärmlich. Der Fahrer brachte uns zu einer Meldestelle in Neurode im Glatzer Bergland, von wo aus wir auf verschiedene Häuser verteilt wurden. Die Familie, der wir zugeteilt waren, wollte uns erst nicht aufnehmen. Nur mit Druck der Behörde bekamen wir ein unbeheizbares Zimmer mit einem Bett für uns drei. Oma und Tante mit Tochter wurden anderen Leuten zugeteilt ganz weit von uns entfernt. Meine Tante gebar ihr Kind dort, das aber leider die ersten Tage nicht überlebte. Nach kurzer Zeit kam der erneute Aufruf zur Fahrt in den Westen. Zuerst mussten alle Fremden die Stadt Neurode verlassen, so auch wir. Ein sehr langer Zug aus D-Zugwagen, ich meine es waren 16 Wagen, war bereitgestellt und fuhr mit uns durch die Tschechoslowakei über Prag und Eger nach Bayern. Die Fahrt von Neurode nach Weiden in der Oberpfalz in Bayern dauerte mit Unterbrechungen über zwei Wochen. Gefahren wurde nur nachts. Tagsüber stand unser Zug gut getarnt durch Bäume und übergespannte Netze in Wäldern, da bei hellem Tag mit Tieffliegern gerechnet werden musste. Manchmal standen wir auch mehrere Tage an einer Stelle, wenn keine Lok zur Verfügung war. Da der Zug nur durch eine angehängte Lok beheizt werden konnte, kühlten die Wagen in der loklosen Zeit sehr aus. Es gab kein heißes Wasser und zur Toilette gingen wir in den Wald. Leute machten im Wald Feuer und tauten ein bisschen Schnee auf, um Wasser zu bekommen. Das Essen wurde knapp, viele haben gehungert. Zur Vorsorge für schlechte Zeiten hatte mein Großvater, der Vater meiner Mutter, über Monate Haferflocken und Zucker gesammelt. Da ich gern Haferflocken mit Zucker und Kakao esse, hatte er mir meine Schultasche mit Haferflocken, gemischt mit Zucker, bis obenhin gefüllt. Dieses war meine Hauptnahrung während der 14-tägigen Reise. Zurück zur Zugfahrt Richtung Westen. Manchmal hielt der Zug auch auf Bahnhöfen, und wir wurden alle mit heißen Getränken versorgt. In einigen Nächten fuhr der Zug so schnell, dass wir befürchten mussten, er springe aus den Gleisen, wenn er über Weichen fuhr. Ich fand das Ruckeln und Stoßen der schnellen Fahrt interessant. Die Bahner sagten, die schnelle Fahrt sei gewesen, da man Partisanenbeschuss befürchtet hatte. Uns begegnende Züge waren z.T. sehr zerschossen. Unser Zug wurde meistens von Dampfloks gezogen, und wo die Strecke elektrifiziert war, taten das E-Loks. Als wir auf unserer langen Zugfahrt Richtung Westen durch Prag kamen, hatten wir dort zwei Stunden Aufenthalt. Der Zug durfte aber nicht verlassen werden. Die Türen waren abgeschlossen worden. Wir konnten durch das Fenster das berühmte „goldene Kreuz“ der Hauptkirche sehen. Hier in Prag fuhr ein Personenzug mit Soldaten in entgegengesetzter Richtung durch, bei dem waren die letzten Wagen nur noch Gerippe. Wir schafften trotz der Geschwindigkeit in den Nächten keine großen Strecken, da wir oft auch seitwärts stehen bleiben mussten, da Militärzüge Vorfahrt hatten. Aus den Erzählungen weiß ich noch, dass wir durch Eger, Hof und Nürnberg fuhren. Schließlich landeten wir in Weiden in der Oberpfalz. Hier war die Fahrt zu Ende und alle wurden im Vereinshaus der Stadt untergebracht. Die Halle im Vereinshaus in Weiden war natürlich nicht für so viele über viele Tage wohnende Leute ausgelegt, und so waren die Toiletten bald in einem unbeschreiblichen Zustand. Schließlich gab es kein Wasser mehr. Es wurde schrecklich. In diesem Wirrwarr müssen die persönlichen Unterlagen unserer ganzen Familie verloren gegangen sein. Von mir existiert nur noch ein Impfschein vom 20.6.1939 und eine in der Schule in Höfer abgegebene Bescheinigung, dass ich am 1.9.1944 eingeschult wurde. Die Unterlagen wurden uns wahrscheinlich gestohlen, genau wie die einzige Mütze meiner Schwester. Nach 12 Tagen verteilte die Stadt- und Standortverwaltung Weiden alle Schlesier auf die umliegenden Orte. Es war ja noch Krieg. So wurden meine Mutter, meine Schwester und ich und noch 5 andere Familien von dem Bauern Stahl aus Theisseil mit einem Pferdewagen zur Reglersruh in den Bergen zwischen Weiden und Theisseil gebracht. Die Stelle liegt östlich oberhalb von Weiden. Auf der Reglersruh wohnten wir ungefähr vier Monate, bis meine Mutter, meine kleine Schwester und ich und noch eine Frau mit ihrem kleinen Sohn zu dem Bauern Stahl-Gollwitzer, in den nächsten Ort, nach Theisseil, geholt wurden. Bei dem Bauern bekam jede Kleinfamilie ein eigenes kleines Zimmer.  Meine Mutter und die andere Frau wurden in die Hofarbeit eingebunden. Meine Mutter übernahm später die Arbeit im Haus bis uns mein Vater im Oktober 1945 nach langem Suchen fand und die Nachricht mitbrachte, dass auch mein Bruder unverletzt den Krieg überstanden hatte. In der Verwandtschaft waren etliche meiner Onkels gefallen.

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